Das Online-Portal "Digitale Schriftkunde"
Eine „möttsembel“ hatte der Maurersohn Baltasar Carl seiner Geliebten, der Dienstmagd Agnes Geroldt, vom Tölzer Jahrmarkt mitgebracht. Unter dieser Köstlichkeit darf man sich nun wohl kein modernes Mettbrötchen, sondern eher ein mit Met getränktes Backwerk vorstellen. Noch spät am Abend stieg er bei ihr durchs Fenster ein, um seine Gabe zu überbringen. Was dann passierte, war tragisch und offenbart menschliche Abgründe – allerdings nur dem, der das Gerichtsprotokoll aus dem Jahr 1705 auch lesen kann. Leider sind die schwungvoll hingekratzten Zeilen des Gerichtsschreibers für Ungeübte kaum zu entziffern.
Wer in der historischen Überlieferung nicht nur etwas stöbern, sondern fundiert forschen will, sei es zur Geschichte der eigenen Heimatgemeinde, sei es zur eigenen Familie, muss sich mit den fremdartigen Buchstaben vertraut machen. Dass immer mehr Quellenbestände inzwischen auch in digitalisierter Form verfügbar werden, ändert daran gar nichts, im Gegenteil – auch diese wollen und müssen erst einmal entziffert werden. Sonst ergeht es einem womöglich wie dem pensionierten Ansbacher Pfarrer Hans Grisshammer, der noch 1967 in der alten "Deutschen Schrift" einen Brief an Ministerpräsident Alfons Goppel schrieb, um sich über das "überaus eilige" Verlesen der Radionachrichten zu beschweren: Man versteht höchstens die Hälfte.
Aus archivischen Fundstücken wie diesen beiden, historisch bedeutenden und eher randständigen, ernsten oder heiteren Inhalts, schöpft ein neues Internetangebot der Staatlichen Archive Bayerns sein Material: Die "Digitale Schriftkunde" bietet sowohl deutsche als auch lateinische Textbeispiele aus 13 Jahrhunderten, und bereitet sie als Lehr- und Übungsstücke auf. Mit dem Angebot bieten die Archivare einen zeitgemäßen Einstieg in die Schriftkunde, der die Flexibilität des digitalen Mediums voll ausnutzt: Text- und Bildansichten sind so eingerichtet, dass Leseübungen am Bildschirm komfortabel möglich werden. Im Zentrum steht immer die Abbildung des Archivales. Die verschiedenen Text- und Markierungsfunktionen kann man ganz nach Wunsch verschieben und flexibel zu- oder abschalten. Die Schriftbeispiele sind nach ihrem Schwierigkeitsgrad eingeteilt und können so sortiert und angewählt werden. Wer möchte, kann mit leichten Beispielen anfangen und sich zu den schwersten Stücken durcharbeiten.
Bei allen technischen Möglichkeiten, die einer Schriftkunde im Internet inzwischen zu Gebote sehen: Auch das gedruckte Lehrbuch hat noch seinen Sinn und seine Anhänger. Eine Auswahl der im Internet angebotenen deutschsprachigen Stücke ist deswegen auch in Form des neuen "Übungsbuch Deutsche Schriftkunde" erschienen, mit Unterstützung des Bayerischen Vereins für Heimatpflege e.V. und des Bayerischen Vereins für Familienkunde e.V. Auch hier hat sich das Herausgeberteam der Staatlichen Archive wiederum für eine buchstabengetreue Gegegenüberstellung von originalem Schriftstück und Entzifferungstext entschieden. Eine schriftgeschichtliche Einführung, ein Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen und Kanzleibegriffe in archivischen Schriftstücken und ausgewählte Literaturhinweise ergänzen das Buch.
Im Anschluss an den Vortrag berichtete Erhard Füssel zum Thema "Entwicklung der Schrift" aus Sicht eines kundigen Laien über seine Erfahrungen. Er zeigte, wie sprachliche Unterschiede, sich ändernde Wirtschaftsformen und neue technische Errungenschaften die Entwicklung der Schrift in Westeuropa beeinflussten. Parallel zu unterschiedlichen Druckschriften (Antiqua und Fraktur) entstanden verschiedene Stile der Schreibschriften (Kurrent- oder Kursivschriften), wobei der als "Deutsche Schrift" bezeichnete Schriftstil nicht mit der "Sütterlin-Schrift" identisch ist, die lediglich eine kurzlebige Variante der Deutschen Schrift darstellt.
Der gesamte Diskussionsbeitrag kann bei uns angefordert werden.
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